Widerstand zwecklos

Mit einem sensationell geringen Luftwiderstand glänzt er: der neue EQS von Mercedes-EQ. Möglich wurde diese Rekordmarke dank optimaler Kooperation zwischen Aerodynamikern und Designern, inklusive Seitenblick auf die Bionik.


28. Oktober 2021


«Es ist nicht sinnstiftend, zweimal dasselbe Auto zu bauen», sagt Daimler-Chefdesigner Gorden Wagener. «Deshalb haben wir die S-Klasse nicht zu einer Elektroversion umgebaut, sondern mit dem EQS ein grundlegend neues Konzept verfolgt.» Und CEO Ola Källenius gibt zu Protokoll: «Das Gesicht des Wagens ähnelt dem Stromlinienprofil eines Hochgeschwindigkeitszugs.» Womit wir beim entscheidenden Stichwort angelangt sind: der Aerodynamik.


Grundlegender Faktor. 

Anders als beim seit Jahren anhaltenden SUV-Boom rückt der Luftwiderstandsbeiwert bei elektrischen Reiselimousinen wieder stark in den Fokus. Denn er beeinflusst den Energieverbrauch spürbar und damit die realisierbaren Reichweiten – bis zu 780 Kilometer sind es beim Modell EQS. «Schon ab einer Geschwindigkeit von 60 km/h ist die Aerodynamik der dominierende Faktor, weil dann der Luftwiderstand den Rollwiderstand übersteigt», erklärt Thomas Indinger, Dozent für Aerodynamik und Strömungsmechanik an der Technischen Universität München.

 

Der EQS hat mit 0,20 den tiefsten cw-Wert eines in Grossserie gefertigten Fahrzeugs, sprich: Kein Auto ist windschlüpfriger. Konkret bedeutet dies, dass lediglich 20 Prozent der Luft, die auf die Stirnfläche des EQS trifft, aktiv verdrängt werden müssen. Vor allem bei der Entwicklung eines modernen Elektrofahrzeugs führt deshalb kein Weg an Erprobungen im Windkanal vorbei. Aber begeben wir uns doch auf einen kleinen Rundgang um den EQS von Mercedes-EQ. 


Die Front.

Am glatten schwarzen Bug, ohne die konventionellen Zerklüftungen eines «Kühlergrills», kann die Luft praktisch ungehindert entlangströmen. Zwar gibt es seitlich zwei grössere Lufteinlässe, die aber keine aerodynamischen Nachteile mit sich bringen. Ganz im Gegenteil: Bei jedem Auto ist der vordere Radkasten einer der neuralgischsten Punkte in Sachen Wirbelbildung. Beim EQS dagegen tritt die Luft hinter dem Einlass so aus, dass sie sich wie ein schützender Vorhang über das rotierende Vorderrad legt.

Aerodynamik EQS

Das aerodynamischste Serienautomobil der Welt: der EQS von Mercedes-EQ.

Die Felgen.

Aus einer gewissen Distanz betrachtet, wirkt die 19 Zoll grosse AMG-Aero-Felge des EQS wie ein klassisches Rad mit Fünf-Speichen-Stern-Design. Ein solches würde aber an seinen Kanten starke Wirbel bilden. Verkleidet man als Gegenmassnahme die Felge komplett, wäre dies wiederum aus ästhetischer Sicht unvorteilhaft. Deshalb haben die Aerodynamiker im Dialog mit den Designern zu einem optischen Kniff gegriffen: Die Felge ist nach innen gezogen und verblendet – und hat mittig nur einen vergleichsweise kleinen offenen Bereich. Während schwarze Akzente die Felge immer noch klassisch sternförmig wirken lassen, ist sie tatsächlich aerodynamisch stark optimiert.

 

Die Reifen.

Einen grossen Einfluss auf die Aerodynamik üben auch die Reifen aus: einen positiven, wenn sie eine rundliche Schulter haben, einen negativen, wenn es sich um eckige Niederquerschnittreifen handelt. Mit einem Querschnitt von 55 Prozent (Verhältnis von Flankenhöhe zur Reifenbreite) ist das Reifenmodell, das auf der AMG 19"-Leichtmetallfelge des EQS sitzt, an der Schulter stark abgerundet, aber gerade deshalb aerodynamisch besser. Zum Vergleich: Die optionale 21"-Felge mit niedrig bauenden Reifen (40 Prozent Querschnitt) erhöht den cW-Wert des EQS auf 0,209. Mehr zum Thema Reifen bei Elektroautos lesen Sie übrigens hier.

 

Die Aussenhaut.

Da die Karosseriefugen etwa im Bereich der A-Säule mit Gummi ausgekleidet sind, bieten sie für anströmende Luft kaum Angriffsflächen. Auch weitere Details bringen in Summe viel – wie etwa die Wölbung der Fronthaube in Richtung Windschutzscheibe, wo die Luft wirbelfrei über die Scheibenwischer hinwegströmen kann. Auf rückwärts gerichtete Kameras statt Aussenspiegel haben die Konstrukteure beim EQS verzichtet. Dafür gibt es versenkbare Türgriffe, wobei man sich fragen darf: Bringt das überhaupt etwas? Antwort: ja, etwa 500 Meter mehr Reichweite. Dieses Feature dürfte also eher ein Anliegen der Designer gewesen sein. Noch ein spezielles Detail: Bevor die Luft entlang der Flanke auf die Hinterräder trifft, haben die Daimler-Aerodynamiker einen kleinen Spoiler am Unterboden entwickelt, um auch an dieser Stelle die Anströmung zu verbessern.

One Bow Design

Coupé-ähnliche Linien im Limousinenformat: Das One Bow Design des EQS.

Der Unterboden.

Beim voll verkleideten Unterboden ist, im Zusammenspiel mit der flachen Dachlinie, eine Annäherung an die berühmte Tropfenform gelungen, die als ultimative Aerodynamikkontur gilt. Die Luftströme über und unter dem Fahrzeug finden hinten im Idealfall schnell wieder zusammen und bilden vor allem eines nicht: unerwünschte Wirbel.

 

Das Heck.

Ästhetik aus dem Windkanal: Das fliessend abgerundete Heck repräsentiert eine fast perfekte Zusammenarbeit von Designern und Aerodynamikern. Letztere betonen immer wieder, dass ein guter Luftwiderstandsbeiwert vor allem am Heck gemacht wird. Was erst einmal unlogisch klingt: Die Luft prallt doch vorne auf – wieso also soll das Heck so wichtig sein? Bei Limousinen alter Bauart mit schlechtem cW-Wert bilden sich über dem Stufenheck meist starke Wirbel, die einen Unterdruck erzeugen, welcher entgegengesetzte Kräfte auslöst und das Fahrzeug quasi nach hinten zieht. 

Abgerundetes Heck beim EQS

Fliessend abgerundetes Heck: Der EQS holt hier entscheidende Aerodynamikpunkte.

Anleihen bei der Natur.

Bekannte Pfade verlassen und neuen Ideen eine Chance geben: Das ist von jeher die Philosophie von Daimler. So bedient man sich für Hightech-Projekte auch mal bei Vorbildern aus der Natur. Denn die Evolution hat für fast jedes praktische Problem auf diesem Planeten äusserst effiziente Lösungen hervorgebracht und ist für Erfinder eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Diesen Wissenschaftsbereich nennt man Bionik. 
 

Speziell in der Strömungslehre lohnen sich Anleihen bei der Natur, die sich in diesem Bereich als unschlagbar erweist. So kann etwa ein Pinguin mit dem Energieäquivalent eines Liters Benzin 1500 Kilometer weit schwimmen. Und könnte er fliegen, würde er dank seiner perfekten Stromlinienform sicher auch in der Luft eine gute Figur abgeben.