Revolution in der Warteschleife

Revolution in der Warteschleife

Revolution in der Warteschleife

Ist es Angst vor dem eigenen Mut? Viele Autohersteller jedenfalls setzen auch bei ihren Elektromodellen beharrlich auf bewährte Formen. Wie es auch ganz anders ginge, werden wir wohl erst in einigen Jahren erfahren.


25. November 2021


Im Auto sitzt vorne der Motor, dann kommen die Fahrgäste und im Heck gibt’s einen Kofferraum. So war es bei der Mehrzahl der Marken und Modelle – ein Jahrhundert lang. Elektroautos sind, wie wir wissen, ziemlich anders gestrickt: Keine voluminösen Motoren mehr, keine Kühler, Getriebetunnels, Treibstofftanks und Abgasanlagen. Dafür eine satte Schicht Batterien in flachen Unterböden. Die E-Motoren nur noch melonengross. Ungeahnte Freiheiten fürs Fahrzeugdesign, die sich hier eröffnen.


 «Turbo»-Elektroauto

Sollte man zumindest denken. Die Realität sieht anders aus. Die aktuellen Modelle und die angekündigten neuen bleiben den klassischen Formen weitgehend treu. Lange Fronthauben, Lufteinlässe und Kühlergrill-Dummys sind als stilistische Codes allgegenwärtig, auch wenn es kaum noch was zu kühlen gibt. In der Verbrenner-Welt stehen die genannten Merkmale von jeher für Hochleistung. Wen wundert es da noch, wenn ein Hersteller seinem stärksten Elektrosportcoupé sogar das Prädikat «turbo» verleiht? Als wäre da immer noch ein Abgasturbolader im Spiel, der kräftig auf die Tube drückt. Die Marketingspezialisten sind wohl der Meinung, Leistung liesse sich auch beim Elektroauto nur über Signale alter Schule ausdrücken.


Herausforderung genug

Für Anthony Weck, Chefdesigner an der französischen École Espera Sbarro nahe der Schweizer Grenze, ist es kein Wunder, dass die Automobilhersteller sich auch bei ihren Elektrokreationen an bewährte Attribute und Formensprache anlehnen: «Die Umstellung der Antriebe von fossil auf elektrisch ist anspruchsvoll genug – für Produzenten wie für Kunden. Da muss man nicht gleich noch ein Science-Fiction-Design obendrauflegen.»


Neue Impulse gibt es dennoch. Der EQS ist das erste Modell von Mercedes-EQ, das nicht auf einer Verbrenner-Plattform steht. Verwandt zwar mit der S-Klasse, aber doch ziemlich anders. Die pure Elektroarchitektur ermöglichte einen frischen Auftritt – die Designer wählten ein Konzept mit langem Radstand und einer weit nach vorne gezogenen Windschutzscheibe sowie eine One-Bow-Linienführung. Dieses Autodesign mutet nahtlos an, die Linien sind rund, weich, schlank und ohne Fugen. Sie erinnern an eine Computermaus, die der Hand schmeichelt.

EQS und S-Klasse

Neuinterpretation traditioneller Formensprache: Profilansicht von EQS und S-Klasse.

Crash-Sicherheit

Dass man sich bei der zugrundeliegenden Fahrzeugstruktur dennoch auf keine Experimente einliess, dafür gibt es auch handfeste Gründe – etwa die Crash-Sicherheit. Gorden Wagener, Chefdesigner bei Mercedes-Benz, nennt noch ein weiteres Argument: «Ohne Fronthaube würde die Windschutzscheibe sehr viel grösser, was unerwünschte Reflexionen und erhöhte Sonneneinstrahlung zur Folge hätte.»


Spuren einer Design-Revolution lassen sich dafür im Innenraum feststellen. Die Mittelkonsole etwa ist in Wahrheit eine Brücke – darunter lässt sich allerlei unterbringen, zum Beispiel eine grössere Tasche. Und der sich über die gesamte innere Wagenbreite spannende optionale MBUX Hyperscreen verbindet Technologie mit Design auf eindrückliche Weise. Und doch sind all dies Änderungen, die sich erst auf den zweiten Blick erschliessen.

Frank M. Rinderknecht

«Die Elektromobilität ist kein Gamechanger für die Autoindustrie – zumindest nicht, was das Design betrifft.»

Frank M. Rinderknecht, Schweizer Automobilvisionär

Kein Gamechanger
«Die Elektromobilität ist kein Gamechanger für die Autoindustrie – zumindest nicht, was das Design betrifft», sagt der Schweizer Automobilvisionär Frank M. Rinderknecht. Das Martialische, das Grimmige und das Imponiergehabe hätten sich auch in die Elektrowelt hinübergerettet. «Markante Änderungen werden wir erst sehen, wenn das höchste Level (Level 5) beim automatisierten Fahren erreicht ist. Wenn die Autos dann also vollautonom und ohne menschliches Zutun unterwegs sind.»

EQA-Design

Vision und Wirklichkeit: der EQA als Designvision und auf der Strasse.

Von innen nach aussen

Bis es so weit ist, dürfte aber noch einige Zeit vergehen: eher Jahrzehnte als Jahre. Laut einer Prognos-Studie des ADAC werden sich vollautonome Strassenfahrzeuge erst ab etwa 2040 durchsetzen. Frank M. Rinderknecht ist überzeugt: «Erst dann kann die Chance, das Auto von innen nach aussen zu entwerfen, in vollem Umfang genutzt werden.» Und erst dann wird die Form nicht mehr der Technik folgen müssen, sondern sich gänzlich dem Einsatzzweck sowie dem Modegeschmack und der Kultur anpassen.
 

Da liegt es in der Natur der Sache, dass mitunter auch gewagte Design-Entwürfe entstehen. Dass die Umsetzung in der Regel weit nüchterner und bodenständiger erfolgt, dürfte auch für das Elektroauto der Zukunft gelten. Frank M. Rinderknecht: «Die Idee ist, gedanklich jeweils ins Übermorgen zu springen und sich von dort aus rückwärts ins Morgen zu bewegen.»