
Auf Spurensuche für die Sicherheit.
Vor rund 50 Jahren fiel der Startschuss für ein branchenweit seltenes Projekt: die Mercedes-Benz Unfallforschung. Seit 2018 hat sich Julia Hinners darauf spezialisiert, Unfälle unter die Lupe zu nehmen, an denen Mercedes-Benz Vans beteiligt sind. Hier gewährt die Diplom-Ingenieurin spannende Einblicke in ihre Arbeit.
Frau Hinners, was genau macht die Van-Unfallforschung der Mercedes-Benz Group AG?
Unsere Kernaufgabe sind Untersuchungen von real verunfallten Fahrzeugen unserer aktuellen Baureihen. Wir wollen herausfinden, welche Unfälle mit ihnen passieren, wie unsere Fahrzeuge reagieren und was wir dementsprechend an ihnen verbessern können. Aus den aufgenommenen Unfalldaten und auch aus verschiedenen anderen Datenquellen erstellen wir Unfallstatistiken, die unsere Kollegen in der Van-Entwicklung nutzen, um z.B. Fahrerassistenzsysteme oder Passive Rückhaltemittel auf das reale Unfallgeschehen auszurichten.
Führen Sie uns bitte durch einen typischen Arbeitstag!
Ich würde zwischen zwei typischen Arbeitstagen unterscheiden. An einem normalen Bürotag fällt mein erster Blick auf Nachrichtenseiten, auf denen von Unfällen berichtet wird. Ich mache mir morgens kurz ein Bild davon, welche Unfälle seit gestern oder über das Wochenende geschehen sind. Dann beginnt die tägliche Skype-Konferenz mit den Kollegen. Dabei besprechen wir, welche Unfälle wir untersuchen könnten. Wenn Unfalluntersuchungen anstehen, müssen diese vorbereitet und organisiert werden. Ich telefoniere mit der Polizei, mit Abschleppdiensten, Fuhrparkleitern oder Unfallfahrern. Ein typischer Unfalluntersuchungstag hingegen beginnt sehr früh morgens mit einer Autofahrt zum Standort des Unfallfahrzeugs. Für eine Fahrzeuguntersuchung benötigen wir etwa vier Stunden. Und wenn möglich, wird im Anschluss noch die Unfallstelle besichtigt, werden Unfallspuren vermessen, wenn vorhanden das gegnerische Fahrzeug besichtigt und dokumentiert.
Sie führen eine Fahrzeuguntersuchung durch – wie gehen Sie vor?
Ich verschaffe mir erst einmal einen Überblick: Welche Deformationen sind vorhanden? Welche Mechanismen haben diese verursacht? Wie sieht der Innenraum aus? Wir nehmen grundlegende Fahrzeugdaten wie Reifendruck, Profiltiefe, Tankfüllstand und Km-Stand auf, vermessen die Deformationen und untersuchen die Rückhaltesysteme. Wenn erforderlich, können wir Crash-Daten auslesen und analysieren. Danach fotografieren wir umfangreich die Beschädigungen am Fahrzeug. Wir sammeln also eine ganze Menge Informationen, die wir im Nachgang interpretieren. Ein Simulationsprogramm unterstützt uns bei der Rekonstruktion des Unfallablaufs und analysiert die Kollision.
Gemessen an den Zulassungs- und Unfallzahlen: Verursachen Transporter mehr Unfälle als Pkw?
Nein, tendenziell sind Transporter bei eher weniger Unfällen mit Personenschaden beteiligt als Pkw – vor allem, wenn man berücksichtigt, dass die durchschnittliche jährliche Laufleistung pro Fahrzeug unter Transportern höher ist als unter Pkw. Allerdings hat das Transporter-Segment durchschnittlich eine höhere Unfallschwere. Das liegt vor allem am Einsatzbereich dieser Fahrzeuge. Ein grosser Teil der Unfälle, die ich untersuche, geschieht ausserorts mit entsprechenden Geschwindigkeiten.
Wo gibt es überhaupt noch Optimierungspotential beim Thema Fahrsicherheit?
Aktuell und auch in Zukunft steht die Unfallvermeidung an erster Stelle. Viele Unfälle können schon durch aktuell verfügbare Sicherheitssysteme, wie z.B. den Notbremsassistenten, verhindert werden. Wir brauchen Assistenzsysteme in unseren Fahrzeugen, die immer mehr Unfallszenarien vermeiden oder abmildern. Hier rücken dann auch andere Verkehrsteilnehmer wie Fussgänger oder Radfahrer in den Fokus, die durch solche Systeme geschützt werden können. Kurzfristig sehe ich ausserdem Optimierungspotential im Sicherheitsbewusstsein der Fahrer und Mitfahrer. Auch in einem modernen Fahrzeug mit toller Ausstattung muss man sich anschnallen – das sollte keine Frage sein. Ohne Sicherheitsgurt nützt einem das sicherste Auto nichts – das gilt übrigens auch für Ladungssicherung.
Sie haben ständig mit Unfällen zu tun, sind oft selbst vor Ort. Wie sicher fühlen Sie sich im Strassenverkehr?
Ich beschäftige mich seit 2013 mit Unfallforschung, was sich sicher auch auf mein Verhalten im Strassenverkehr auswirkt. Ich glaube, dass ich typische Unfallsituationen gut erkenne und mir potenzieller Gefahren ständig bewusst bin. Letztlich habe ich mein Hobby Motorradfahren nach vier Jahren wieder aufgegeben. In meinem Auto fühle ich mich ziemlich sicher im Strassenverkehr, aber ich habe mir auch bestimmte Verhaltensweisen angewöhnt. Zum Beispiel bleibe ich niemals auf der rechten Spur am Stauende stehen, sondern fahre nach links rüber, um das Risiko von Auffahrunfällen durch Lkw zu vermeiden. Darüber hinaus ist es mir wichtig, ein modernes Fahrzeug mit guter Sicherheitsausstattung zu fahren.
Was gefällt Ihnen besonders gut an Ihrem Job?
Ich mag den direkten Kundenkontakt, der mit der Befragung der Verunfallten zum Unfallhergang, ihrem Verhalten und Reaktionen beim Unfall einhergeht. Ausserdem habe ich auch viel direkten Kontakt mit unseren Produkten in ihrer ganzen Vielfalt und den dazugehörigen Einsatzgebieten. Der Austausch mit verschiedenen Berufsgruppen, die bei Verkehrsunfällen aktiv werden, ist ebenfalls spannend. Am meisten gefällt mir jedoch, dass ich mit meiner Arbeit die Strassen ein bisschen sicherer machen kann.
Zu guter Letzt: Haben Sie noch eine Botschaft an unsere Leser?
Ja, schnallen Sie sich an! Sichern Sie stets Ihre Ladung! Denn sie kann die Dynamik des Fahrzeugs im Verkehr massgeblich beeinflussen. Und: Assistenzsysteme – besonders Notfallbrems-Assistenzsysteme – können Leben retten.
Fotos:
Loreen Görtler