«Die Physik lässt sich nicht überlisten» 

Die Neuro- und Verkehrspsychologin Simone Aeschbach aus Bern führt Therapien für Automobilisten durch, die nach einem Führerausweisentzug die Fahreignung wiedererlangen wollen. Ein Gespräch über technische Errungenschaften, Sicherheit und Selbstüberschätzung.

31. Januar 2022

 

Frau Aeschbach, moderne Autos haben viel aktive und passive Sicherheitstechnik eingebaut. Wächst dadurch die Risikobereitschaft des Lenkers?

Ich denke nicht, dass Automobilisten einen bewussten Entscheid zur Risikobereitschaft treffen. Bei all den modernen technischen Assistenten drohen aber die stets präsenten potenziellen Gefahren in den Hintergrund zu geraten. Das ist kontraproduktiv, denn die Physik lässt sich nicht überlisten. 50 Meter Bremsweg bleiben 50 Meter Bremsweg.

 

SUV-Fahrer fühlen sich besonders sicher, verursachen aber statistisch belegt mehr Unfälle. Ihre Erklärung?

Wer in einem grossen SUV sitzt, bekommt die Aussenwelt, ihre Geräusche und damit auch die Geschwindigkeit oftmals nicht mehr richtig mit. Aus dieser Konstellation heraus können Unfallszenarien entstehen. Das Hauptproblem ist wohl wirklich, dass sich die Leute in trügerischer Sicherheit wiegen. Grundsätzlich ist auch ein Fahrzeug, das als besonders sicher gilt, nur so sicher wie der Fahrer, der es lenkt.

 

Sollte, wer Auto fährt, demnach mehr in die eigene Sicherheitsausbildung investieren?

Das erachte ich als wünschenswert. Ich merke bei meinen Klienten, dass das Bewusstsein für Gefahren weitgehend fehlt. Sie akzeptieren zwar, dass sie zu schnell gefahren sind, behaupten aber, es sei nicht gefährlich gewesen, als sie auf einer 80er-Strecke mit 120 unterwegs waren.

Simone Aeschbach

Simone Aeschbach empfiehlt Fahrsicherheitstrainings.

Fahrsicherheitstraining

Die Winter Experience von Mercedes-Benz ist eine Möglichkeit dafür.

Mercedes auf Schnee

Mit 700 Teilnehmern pro Jahr eine Institution.

Das Thema «überhöhte Geschwindigkeit» zieht sich durch alle Unfallstatistiken. Weshalb halten wir uns nicht einfach an die Tempolimiten?

Anders als andere Vergehen halten viele eine Geschwindigkeitsübertretung tatsächlich für ein Kavaliersdelikt. Dabei handelt es sich bei den Tempolimiten einfach um gesetzliche Bestimmungen, über die es müssig ist zu diskutieren. Ein Bewusstsein für Gefahr entwickeln viele Fahrer erst, wenn sie selbst eine bedrohliche Situation hautnah erlebt haben. Wenn nicht, lasse ich meine Klienten häufig Filme von Unfallhergängen ansehen, um ihr Bewusstsein zu schärfen. Oder ich laufe mit den Leuten einen realen Bremsweg ab, den die meisten Automobilisten komplett unterschätzen. In einem Fahrsicherheitstraining würden sie das alles direkt erfahren und verinnerlichen.


«Tempo 30» ist ein grosses Thema in Schweizer Städten. Wird es zur gewünschten Sicherheit im Strassenverkehr oder eher zu häufigeren Aggressionen von Verkehrsteilnehmern beitragen?

Wer 30 fährt, hat gegenüber Tempo 50 einen massiv kürzeren Bremsweg, was in Quartieren durchaus Leben retten kann. Wird Tempo 30 jedoch flächendeckend eingeführt, kann man das Auto in der Stadt genauso gut abschaffen. Ich arbeite am Fischerweg in Bern, in einem sehr grünen Quartier. Velofahrer und Fussgänger haben hier die Oberherrschaft. Auch wenn ich mit Tempo 30 unterwegs bin, überqueren die Leute oft wahllos die Strasse, ohne sich überhaupt umzuschauen. Wehe, wenn ich dann nicht notfallmässig auf die Bremse trete, dann bin ich eine geächtete Verkehrsteilnehmerin.

«Wird Tempo 30 in der Stadt flächendeckend eingeführt, kann man das Auto genauso gut abschaffen.»

Simone Aeschbach

Moderne Autos sind mehr als Fortbewegungsmittel. Sie bieten jede Menge Komfort, reagieren auf Sprachbefehle und lassen sich individualisieren. Wie verändert das unser Verhältnis zum Auto?

Ich finde diese Frage spannend. Sehr viele meiner Klienten sehen im Auto eines ihrer wichtigsten Statussymbole. Pferdestärken, aggressives Styling, digitale Upgrades und alle erdenklichen Extras an Bord – das sind die Ingredienzien, die über das Fahrzeug den Statuswert einer Person in gewissen Kreisen ausmachen.

 

Autopilot und autonomes Fahren: Steht das tatsächlich auf der Wunschliste vieler Automobilisten?

Es gibt bekanntlich auch Antworten auf Fragen, die im Grunde niemand gestellt hat. Die Autofahrer, die zu mir kommen, wollen davon jedenfalls nichts wissen, sondern die Kontrolle über ihr Fahrzeug behalten. Dieses subjektive Gefühl von Freiheit möchten sie nicht missen.

 

Im Elektroauto lässt sich die Reichweite durchs eigene Fahrverhalten beeinflussen. Kann die Stimulation dieses «Spieltriebs» den Durchbruch dieser Technologie unterstützen?

Das ist nicht unbedingt eine Frage der Antriebsart. Auch wer Verbrenner fährt, spart durch einen massvollen Einsatz des Gaspedals Treibstoff ein. Mein Bruder ist Fahrlehrer. Er führt mit seinen Schülern EcoDrive-Weiterbildungskurse durch, stellt aber fest, dass diese bei den Jungen kaum auf Anklang stossen. Solange der Sprit so günstig ist, bleibt der Anreiz klein, ökologisch zu fahren.

 

Bei E-Autos ist die Reichweite immer noch das A und O. Viele Leute sagen, das Elektroauto erziehe sie zu einem defensiveren Fahrstil.

Mag sein, meine Klienten fahren alle Verbrenner.

 

Das könnte ja gerade ein Hinweis darauf sein, dass Elektromobilisten sich im Strassenverkehr weniger zuschulden kommen lassen.

Tatsächlich: Wieso gibt es unter meinen Klienten mit Ausweisentzug keine, die Elektroauto fahren? Halten Leute, die sich für den Klimaschutz engagieren, auch die Strassenverkehrsregeln besser ein? Ein spannender Ansatz, den man vertiefen sollte.